Quasi Pinneberg, privat …

LAUDATIO

von Dirck Möllmann
aus Anlass der Verleihung des Drostei Kulturpreises 2007

 

Heute treffen zwei Künstlerwelten aus unterschiedlichen Generationen aufeinander, die sich
hinsichtlich der Wahl ihrer Medien, durch Bild und Klang, Ausstellung und konzertante
Vorführung deutlich voneinander absetzen. Was beide Preisträger jedoch verbindet, ist die
künstlerische Verantwortung, die sie für ihre alltägliche Arbeit im Bereich der Musik und der
visuellen Künste sehr ernst nehmen, indem beide für eine Bewusstwerdung bei uns Dritten,
den Betrachtern und Zuhörern, über Gestaltungs- und Bildungsprozesse im Werk eintreten. Es
erscheint so gesehen nicht zufällig, sie hier gemeinsam ausgezeichnet zu finden.
Soweit ich es erkennen kann, folgt Michael Kress in seinem künstlerischen Werk der
Maxime, dass die so genannte freie Kunst nicht frei von Normen ist, mithin auch unfrei,
zwanghaft oder regulierend wirkt. Dem Musiker vor seinen Lineaturen,
Kompositionsschemata, Schlüsseln und Noten mag das selbstverständlich erscheinen, dem
bildenden Künstler aber ist es mitunter ein hartes Brot der Realitatsprüfung. Er oder sie
sondieren zu Beginn ihrer Ausbildung das Feld der Kunst zumeist, um Neues aus sich selbst
heraus zu schöpfen. Womöglich mit der Phantasie vom Genius unterwegs, arbeiten sie sich
eine ganze Weile an den vertrackten Normen ab.

Weil Kress das eigene Tun immer wieder hinterfragt, wählte er sich die Norm und die Abweichung
von ihr als Motiv und Antrieb füreine ganze Reihe früherer Arbeiten während seines Studiums in der Klasse Freie Kunst an der Hamburger Hochschule für bildende Künste bei Bernhard Johannes Blume und bei Stanley Brouwn. Die Kombination aus anspruchsvollem Konzeptualismus und hintergründiger Komik zur Darstellung gebracht mit Motiven und Materialien, die der Alltagswelt eng verbunden sind, ist ein Kennzeichen der Arbeiten von Michael Kress geworden. Er greift in der formalistischen Tradition der Konzeptkunst der 1970er und 1980er Jahre auf symbolische Systeme zurück, wie die Schönschrift, die Namensgebung, Körpersprache oder sprachlogische Attribute und füllt sie mit Motiven, Atmosphären und Bedeutungen aus der heutigen Zeit.

Dennoch: Kunst ist für ihn weder Selbstzweck noch Geniestreich, vor dem man in Ehrfurcht
erstarrt, sondern sie hat sich im Leben zu erweisen. Sie muss entdeckt und ausprobiert
werden, findet in den oft unvermerkten oder schamlosen Dingen des Alltags statt und vor
allem in den Augen der Betrachter. Kress weiß, das Leben kann nicht nur im Atelier Einzug
halten, sondern Kunst und Künstler müssen unter die Leute gehen. So gründete er 1999 mit
Kollegen die Künstlergruppe „Trust Your Local Artist“, die mit Teilen der Nachbarschaft auf
St. Pauli-Süd für ein paar Jahre gemeinsame Sache machte. Sein künstlerisches Interesse gilt
den Kräften und Dynamiken, die im freien Prozess der Gestaltung und Betrachtung entstehen
und mit verblüffend einfachen Bildlösungen schärft Kress das Bewusstsein für alltägliche
Richtlinien, fordert sie heraus, und stellt mit seinen Werken die ewig junge und zugleich
kritische wie normative Frage: „Was ist Kunst?“ bzw. „Ist das Kunst?“ auf den Prüfstand.

Wenn man versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen, wie es Kress seit den frühen 1990er
Jahren mit seinen bevorzugten Medien Zeichnung, Malerei, Video und Computergrafik getan
hat, dann sind Kunst und Leben gar nicht weit voneinander entfernt. Ebenso wenig wie das
Leben einfach nur schön ist, geht es in der heutigen Kunst nicht mehr nur um Schönheit. Das
Schöne hilft manchmal, aber es ist nicht mehr das Telos der Kunst, ihr erstrebtes Ideal. Man
kann sich angesichts der künstlerischen Arbeiten von Kress, wunderbar klar machen, dass
sein Werk um den Status der Norm kreist, nämlich dass etwas Freies auch unfreie Seiten
birgt, und zugleich von der Art und Weise handelt, dem Modus, wie dieses Verhältnis von frei
und unfrei im Werk aufscheint. Das heißt im Falle von Kress tritt die schöne Form
gleichwertig neben das stimmige Konzept, den durchdachten Inhalt und die Geste der
Vereinfachung. Alle vier Eigenschaften (Form, Stimmigkeit, Inhalt, Reduktion) ließen sich
auch als Attribute der Norm ins Feld führen.

Was meine ich, wenn ich Norm sage? Normen haben eine definitorische Kraft – sie
bezeichnen Standards, Regeln, Vorschriften, Wertvorstellungen. In ihrer regulativen Funktion
bestimmen Normen die Inhalte durch die Form, beispielsweise als industrieller Standard oder
gesetzliche Vorschrift. Als frei begreifen wir den umgekehrten Vorgang, wenn Inhalte ihre
eigene Form entwickeln wie es in der Spielregel der Fall sein kann oder auch in der
moralischen Werteordnung.

Das Ziel von Kress liegt auf der Hand: im Rückgriff auf die Norm als ein Motiv seines
Handelns und Gestaltens will er die Befreiung von der Norm im Sinne der künstlerischen
Freiheit ins Spiel bringen und vielleicht auch aufs Spiel setzen. Denn, wenn es in der Kunst
um Originalität und Kreativität geht, dann gelingt das in der Regel als Abweichung von der
Norm, wie es manchem Avantgardisten im Verlaufe des 20. Jahrhunderts mitunter
eindrucksvoll gelungen ist. Und diese klassische Kunstauffassung einer Wertschätzung der
künstlerischen Vorhut hat im vergangenen Jahrhundert bis heute derart erfolgreich Karriere
gemacht, dass die Kreativindustrie in den Bereichen der Werbung, des Designs und der
Grafik, die einen Großteil der heutigen Künstler beschäftigt, die Norm der Abweichung
(MvO) als erfolgreiche Selbstvermarktung auf ihre Fahnen schreibt. Kress kennt beide Seiten
der Medaille durch seine Brotarbeit an Designschulen nur zu gut.
Aber wie erscheint nun die Norm und ihre Gegenfigur die Abweichung im künstlerischen
Werk von Michael Kress? Ich werde in den folgenden 5 Minuten einen schnellen Suchvorlauf
durch das Werk starten und einige besondere Merkmale hervorheben.

Es beginnt 1990 mit der Schönschrift, die er für sich wieder entdeckt und ebenso mühsam wie
minutiös mit linker Hand von links nach rechts gegen die Leserichtung und mit Spiegelschrift
schreibend in 16 Kladden einträgt. Diese etwas selbstquälerische Prozedur kostet vor allem
eines – Zeit: 20 Stunden für 32 Seiten „Links-Rück-Schreibung“ im ersten Heft, das ist schon
ein Wort. Später geht es etwas schneller. Die Körperhaltung zeichne mit, sagt er über seine
Übungen und mit der Zeit werden Erinnerungen an Köpergefühle der Disziplinierung und
des Regelerwerbs in Kindheit und Schulzeit wieder wach. Kress ist natürlich plietsch genug,
nicht bei der Fronarbeit zu verweilen und erfindet stattdessen Normerweiterungen. Seine
Schönschriftlineaturen von 1991 druckt er in wunderbarer Linienornamentik auf eine 2 Meter
breite Tafel. Die meisten hier im Raum werden die besonderen Zeilenabstände der
Schreibhefte noch erinnern, die einem halfen, Proportionen und Abstände der Buchstaben
zueinander zu begreifen, und die Handschrift somit in sich einzusenken, sie zu beherrschen
und charakteristisch zu formen. Die pädagogisch sinnvolle Nötigung zur Schönschrift mit der
Hand mutiert bei Kress hingegen zu Variationen des Zeilenmusters, zu einem schönen, aber
unnützen Schmuck. Regeln, die zur Norm erstarren und abgelöst vom sinnvollen
Zusammenhang oder Gebrauch der Dinge eine eigene leere Existenz entwickeln, werden in
ihrer Anmut gezeigt und in Frage gestellt, denn das Schöne kann und soll nicht zur Norm
werden. Die Schreib-Lern-Forschung an der Universität Hamburg fand die künstlerische
Deformation der Schriftzeilen von Kress „grotesk“, war aber – ganz pädagogisch – zu einem
klärenden Gespräch dann doch bereit. Denn selbst im Missverstehen tritt der Sinn der
Zeichnungsdrucke offen zutage: es geht Kress um die Norm und ihre Abweichung als
zusätzliche Form der Normierung. Deswegen versah er seine Muster mit schönen und
gängigen Frauennamen: Agnes und Alexis, Bianca, oder Cindy, Gina, Kim usw., denn im Akt
der Namensgebung wird das Schillern der Bedeutung zwischen rätselhaftem Charakter und
formender Normierung, zwischen Eigenname und Zuschreibung erkennbar.
Die Namen: „Natürliche Körperschaften“ heißt ein Zyklus von 1992 mit drei kurzen
Videofilmen über die Bedeutung von Namen. Eine Körperschaft gilt in der Juristerei als
Rechtsform für Verbände, die somit unabhängig vom Wechsel der jeweiligen Mitglieder als
eine juristische Person haftbar sind. In den einfach produzierten Videos rollen in weißer
Schrift auf rotem Grund – erneut – weibliche Namen wie im Abspann am Betrachter vorüber.
Manche sind bekannt aus Funk und Fernsehen einige aus der Pornobranche der 80er Jahre.
Das Geschlecht wird sprachlich durch den Namen benannt und durch die Phantasie seines
Lesers aktiviert. Der Name, sei es der Geburtsname (wie Ilona Staller) oder der Künstlername
(wie Cicciolina) stiftet eine der Körperschaft insofern vergleichbare Identität, als ihre
Befindlichkeit wechseln mag, z. B. in Krisen geraten kann, aber als eine rechtsgültige Form
verbleibt und es ermöglicht, in einen sozialen Austausch einzutreten. Was wären wir in einer
Welt ohne Namen oder ohne Signaturen?

Mit quasi logischer Konsequenz widmet sich Kress fortan der Entwicklung einer digitalen
Handschrift. 1993, ein Jahr bevor das WorldWideWeb begann, unseren Datenaustausch,
unsere Bedürfnisbefriedigung, unsere Kommunikation und unsere Geschäftsfähigkeit von
Grund auf zu verändern, machte sich Kress daran, mit einer digital simulierten Handschrift,
die er 1994 patentieren ließ, einen Briefwechsel mit einer fingierten Person, Jacqueline Stein,
zu beginnen. Sie, die Stein genannte Jacqueline, sinniert, was es ihr bedeutet, in der
Handschrift eines anderen schreiben zu können – ihr, die sie ihr Schriftbild verloren glaubte,
nachdem sie endlos viele Briefe von einer unglücklichen Liebe zurück gesandt bekam. Diese
Briefe müssten Sie selbst lesen, Ihre eigene Zeit mitbringen, die feine Sprache auf diesem so
kaltweißen Papier nachvollziehen und das automatisch erstellte Bild der Handschrift mit dem
gefühlten Inhalt ihrer Worte gleichsam abgleichen, um die Irritation durch den Anblick dieser
digitalen Handschrift zu verspüren.

Aber, weiter im Text … über die Namen hinweg zu den namenlosen „Mädchen von nebenan“,
einer Werkgruppe die seit 1999 besteht und nackte Frauen aus pornografischen Internetseiten
vorstellt. Sie alle zeigen ihre Marke, ihre Körper, Geschlechter und Gesten, Bewegungen,
Blicke und erstarrten Positionen im Liebespiel. Sie heißen alle auch irgendwie, sie finden sich
auch unter Eigennamen wieder, aber diese Namen haben mit ihrer Identität überhaupt nichts
mehr zu tun, sondern sie bilden die erste Vorhut für die anbrandenden Blicke und Fingerzeige
und Clicks im Netz der Geschmacklosigkeiten. Kress übersetzt seine Sex-Agentinnen
buchstäblich in ein neues Bild. Er zieht sie einfach wieder an und entzieht den Mädchen von
nebenan damit als erstes ihre Geschäftsgrundlage. Mit Farbfeldern, die aus Vektorgrafiken am
Computer entstehen, bedeckt er ihre Nacktheit und lenkt den Blick auf die leeren Gesten und
gymnastischen Posen, auf das Bildformat oder die Umgebung. Natürlich bleibt der etwas
schwüle Dunst an den Bildern kleben, aber in manch überarbeiteter Pose gelingt es Kress,
eine neue Atmosphäre zu schaffen, sei sie traurig verloren oder wunderlich staunend – die
Mädchen rasten ruhig, ausgeliefert an das erstorbene Blickbegehren der sie Betrachtenden.
Für die heutige Ausstellung im Raum nebenan hat Kress neue Arbeiten angefertigt. Zwei
großformatige Drucke, rechts und links an den Stirnwänden, zeigen zwei Kompositionen,
geplottet auf 1,80 Meter hoher Leinwand, im traditionellen All-over, einer Montage aus
Versatzstücken übermalter, ehemals obszön dargebotener Körper, welche die komplette
Bildfläche bedecken. Sie sind von privaten Webseiten abgespeichert, grafisch bearbeitet und
berichten ungefragt von der menschlichen Zeigelust, die mit dem Internet in geisterhafte
Zeigewut sich steigert.
Dazwischen, in der Mitte, eine Serie von 20 kleinformatigen Gouache-Zeichnungen,
bestehend aus kolorierten Nacktsegmenten, übertragen aus übermalten Amateur-
Photographien. Sie sind im Titel der Ausstellung „Quasi Pinneberg“ mit dem Zusatz „privat“
versehen, und so wendet sich das Blatt vom halbseidenen Profitum zum heimischen Flirt mit
der Foto- oder Videokamera, weltweit zugänglich gemacht über das Internet, mitunter auch
als Racheakt an der Verflossenen.

Es ist schon merkwürdig wie offenkundig die visuelle Normierung des aufreizenden Körpers
einen einheitlichen Standard der Haltung, des Blicks, der Verführung, der Leere und
Entfremdung wie am Fließband hervorbringt. Die „Befreiung“ zur Nacktheit, der tägliche
Exhibitionismus wird zu einer neuen Norm. Und womöglich gewinnen diese Bilder,
ausgewählt aus all den namen- und bedeutungslosen unzähligen anderen Bildern, als solche
Wahl und Übermalung, überhaupt erst ihren Status als ein Bild wieder zurück. Ein Bild, das
einen Blick erwidert, weil es aus der schnellen Vernutzung gehoben wurde, betrachtet mit
Ausdauer, berührt, übertragen auf Papier, in Gouache, mit Pinsel, im Modus alter
Handwerkstechniken der Dauer, die Echtheit gewähren, aufgehoben im Status der Kunst, die
konserviert werden will, bedacht und bewertet, mit anderen doppeldeutigen Worten
wertgeschätzt werden will. Kress gelingt dieser Bildtransfer, indem er die Standards aufbricht,
sie vereinzelt durch die Übermalung, an ihre Endlichkeit im Unterschied zur endlosen
Reproduzierbarkeit erinnert und sie zugleich lakonisch in ihrer stummen Erheischung von
Aufmerksamkeit belässt. Seine Bilder erzählen von dem Wunsch nach Abweichung, die
ihrerseits bereits zu einer neuen Norm geworden ist. Kress ist im Grunde ein echter Utopist,
der noch an den ursprünglichen Zusammenhang von Kunst und Leben glaubt und in einer Art
rührendem Ernst die Nackten bekleidet, um sie und ihre Namen in die Bedeutung zurück zu
holen. Diese Haltung ist keineswegs naiv, sondern eine der vornehmsten Aufgaben der Kunst
heute, die Prozesse der Konstitution von Bedeutung durch Bilder anhand von Bildern zu
untersuchen. Für mich ist dies ist eine gefühlvolle und erhellende Art des kreativen Forschens
am offenen Herzen und ich beglückwünsche ihn für seinen Mut und seine Ausdauer, dieser
Arbeit treu zu bleiben. Mitunter – wie heute – springt auch ein wertvoller Preis dabei heraus.

Herzlichen Glückwunsch – Michael Kress.

Dirck Möllmann, Hamburg, den 31. Oktober 2007