Mit Lawrence und Lennon und den Vier Musketieren durch die Wüste ins Kino

„figurar-se (The Members of the Aqaba Beach Club)“ Instruction: take 03:30 min. time and imagine that you are right here (in the movie, at the beach, where John Lennon wrote the song „Strawberry Fields Forever“. Video-Stills 3-chanal video installation, 1080p, duration: 03:30 min,17 performer, color, without sound, 2009 Performer: Maxime (13), Reims, © Michael Kress/ VG Bildkunst
Einführungsvortrag zur Vernissage  „YO AQABA“
14.10.2009 – 22.11.2009, Stiftung Landdrostei – Pinneberg
von Heidi Salaverría (11.11.2009)

 

Noch befinden Sie sich im Foyer vor der Ausstellung von Michael Kress mit dem Titel: YO AQABA. Mit Lawrence und Lennon und den Vier Musketieren durch die Wüste ins Kino. Gleich werden Sie in den Ausstellungsräumen verschiedene Dinge, Medien und Materialien sehen. Zu der Ausstellung gehören: Fotografien mit und ohne Glas, Videoinstallationen, Zeichnungen, Steine, und einiges mehr. All das können Sie noch nicht sehen (und Sie werden noch feststellen, dass das Nicht-Sehen eine wichtige Rolle in dieser Ausstellung spielt).Deswegen möchte ich Sie einladen, sich die Ausstellung – sozusagen als Aperitiv – vorzustellen: Was sind das für Steine? Wo befinden sie sich im Raum? Und: Warum überhaupt Steine? Wie werden die Linien auf den Zeichnungen aussehen? Welche Motive zeigen die Fotos? Genügt es zu sagen, dass darauf Erde, Steine, Berge, Meer erkennbar sind? Müll, eine Landschaft aus großer und aus kleiner Entfernung, Häuser, Zelte, Gebäude? Beim Betrachten der Bilder werden Sie außerdem feststellen, dass auf manchen Fotos etwas fehlt: Dort sind bestimmte Dinge nicht zu sehen, Sie werden dort also nur das Negativ oder die Schatten sehen. Schatten von: Einzelnen Menschen, Menschenarmeen mit Waffen, von Pferden und von Kamelen. Sie werden auch zwei Videogruppen sehen. Auf der einen: Bewegte Bilder einer Landschaft mit und ohne etwas – Mit einem Schornstein, mit Beton, ohne Menschen, mit Licht, ohne Schatten. Auf der anderen Videogruppe hingegen: Einzelne stille Gesichter vor einem Meereshorizont. Mit Wind, aber ohne Sprache. Mit Licht, aber ohne geöffnete Augen.Dazu gibt es Titel, die Wörter zu den Dingen. (Die stillen Videogesichter heißen z.B.: figurar- se (The Members of the Aqaba Beach Club), die Steine heißen This is Aqaba), und es gibt die visuelle und textuelle Verbindung zwischen den einzelnen Objekten: Je nachdem, wo Sie stehen (im übertragenen und im nicht übertragenen Sinn), werden Sie Steine in Verbindung oder in Abgrenzung zu Videos oder etwas anderem wahrnehmen. Sie werden auch Michael Kress sehen, erkennen ihn wieder, oder sehen ihn zum ersten Mal. Und Sie sehen natürlich auch die anderen Besucher, von welchen Sie wiederum gesehen werden.
„Lobby Card Aqaba II“,2009, Digital Montage, Inkprint auf Barytpapier, 60 x 40 cm
„Lobby Card Aqaba II“,2009, Digital Montage, Inkprint auf Barytpapier, 60 x 40 cm
Für Außerirdische wäre diese – gerade imaginär vorweggenommene – Raumanordnung völlig sinnlos. Selbst wenn sie Augen hätten, sie würden die Objekte höchstwahrscheinlich nicht als solche erkennen, geschweige denn in den Bildern oder Gesichtern etwas lesen. Mit anderen Worten: All dies wäre für Außerirdische unverständlich, es wäre nicht intelligibel. Aber eigentlich muss ich gar nicht so weit ausholen: Einer Beduinin, Immanuel Kant und meiner Nichte ginge es ähnlich. Und wenn ich mich nicht schon mit der Fragestellung auseinander gesetzt hätte, würde sich mir der Sinn dieser Räume auch nicht gleich erschließen. Aber das ist schön, denn genau darum geht es hier:Wenn wir uns klarmachen, dass unser Verständnis – und sogar die scheinbar selbstverständlichste Wahrnehmung – von Dingen, von Welt und von Anderen undenkbar ist ohne den Verständnishorizont, in dem wir uns befinden, dann setzt eine Verunsicherung ein. Denn den Verständnishorizont haben wir nicht selbst gemacht, er war vor uns da. Dieser Horizont oder Rahmen oder Kontext oder Common Sense, ich könnte auch sagen: dieser Raum ist voll von Normen, von für uns zumeist unsichtbaren Maßstäben, ohne die niemand auch nur denken, wahrnehmen oder fühlen kann. Aber nicht alleine das: Der normative Raum mit seiner symbolischen Ordnung steht nicht fest, er bewegt sich, ohne dass wir es unbedingt bemerken. Plötzlich haben bspw. alle Digitalkameras und statt in Fotoalben werden die eigenen Bilder in den öffentlichen Internetraum gestellt oder mit Handys herumgeschickt. Doch trotz seiner Beweglichkeit ist er mächtig, der Normenraum, denn er strukturiert unsere Außen- und Innenwelt. Aber: er determiniert sie nicht. Identitätsbildung heißt einerseits, sich irgendwie mit dem Normenraum zu arrangieren, seine Normen zu verkörpern. Heißt andererseits, etwas mit ihnen anzufangen, um den eigenen Standort verständlich zu machen, vor allem, um sich selbst verständlich zu bleiben.Verunsicherung entsteht, wenn man anfängt, sich zu fragen, ob und wie wir innerhalb, außerhalb oder an den Rändern unseres jeweiligen Normenraums verstehen und handeln können. Lässt sich diese Ordnung verändern, und wenn ja, wie? Können wir einen Blick hinter die Kulissen der Intelligibilität werfen oder nicht? Ist irgendetwas daran schön?In der Arbeit von Michael Kress scheinen mir diese Fragen zentral zu sein. Wir können nicht wie Außerirdische auf die Welt, auf Andere, auf Dinge blicken, es steht uns keine neutrale Außenperspektive zur Verfügung. Jede Perspektive ist vielmehr ein Gewebe gewordener und vergänglicher Diskurse, Zeichen, Gewohnheiten, medialer Praktiken und gesellschaftlicher Regeln, in denen sich jede und jeder irgendwie zu verorten versucht. Das scheinbar

 

Selbstverständliche und Normale ist dabei oft besonders trügerisch, da seine Gemachtheit aus dem Blick gerät und die Dinge gerade deswegen als gegeben und wahr erscheinen lässt.Was kann in diesem Zusammenhang Raum heißen? Denn dieser ist nicht wirklich etwas, sondern eher ein Medium. Man könnte daher annehmen, dass er harmlos als leere Medialität fungiert, durch welche die Dinge unverstellt erkannt werden können. Diese fragwürdige Common Sense-Annahme problematisiert Michael Kress in seinen Arbeiten. Er spricht an einer Stelle von Raum-An-nahmen. Darin schwingt mit, dass ein Raum in der Wahrnehmung angenommen oder ablehnt werden kann. Der Punkt, um den es hier geht, ist, dass der Raum immer schon auch sozialer Raum ist, und d.h., dass sogar auf dieser sehr grundsätzlichen, man könnte auch sagen: metaphysischen Ebene der Wahr-Nehmung die Frage der Normierung einerseits und der Verantwortung andererseits nicht vergessen werden darf.In einer Arbeit von 1990, der Links-Rück-Schreibung, in welcher Michael Kress links- und rückwärtsschreibend den Prozess des Schreiben-Lernens und damit auch seine Einschreibung in den symbolisch-disziplinarischen Normenraum zugleich nachvollzieht und unterwandert, schreibt er in Heftbericht 9: „Ich möchte in Zukunft von der ‚Sichtverantwortung’ der Dinge sprechen.“ Es geht also um die Verantwortung der Sicht, des Blicks als einer Handlung. Das wiederum beinhaltet, dass es moralisch und politisch falsche Formen des Sehens oder Blickens gibt. Ich kann es noch etwas zuspitzen: Die potenzielle Gewalt des Sehens/Blickens im Raum wird Thema. Wie man auf etwas blickt, so sagte Michael Kress im Gespräch zu mir, ist bereits ein Eingriff.Der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas hat es einmal so formuliert: „Schon das sinnlich Wahrnehmbare als Anschauung eines Bildes ist vorgebende Behauptung.“ Das sinnlich Wahrnehmbare als Anschauung von etwas einfach hinzunehmen, bedeutet, stillschweigend alle mitgelieferten Normen zu billigen. Es bedeutet außerdem, in erster Linie von einem objektivierbaren Raum auszugehen, in dem die Dinge sich auf eine Weise dem Blick darbieten, als würden sie alle mir gehören. Wahrnehmung ist genau genommen nicht nur vorgebende Behauptung, sondern auch Selbst-Behauptung. Und Selbst-Behauptung findet manchmal auf Kosten anderer statt. Geht man diesen radikalen Gedanken einmal mit, stellt sich sofort eine weitere Frage: Gibt es eine nicht-gewalttätige Form des Blickens? Auf welche Weise muss sich dann das Verhältnis zum Raum, zum Medium, zum Common Sense verändern?

 

Doch ich fange noch einmal neu an: Welche Hinweise gibt uns Michael Kress für das heutige Szenario? Die Ausstellung heißt: YO AQABA. Mit Lawrence und Lennon und den Vier Musketieren durch die Wüste ins Kino. Ich möchte die folgenden Minuten nutzen, um diesen Titel versuchsweise zu entschlüsseln. Der Untertitel lädt zu einer Reise ein: Wir werden eingeladen, mit einer kleinen Reisegruppe von prominenten Männern durch die Wüste ins Kino zu fahren. Was sind das für Männer? Man kann sagen, dass sie alle eine Affinität zur medialen Legendenbildung gemeinsam haben: T.E. Lawrence wurde als Filmheld Lawrence von Arabien weltberühmt, ein kühner britischer Agent, der die Araber im Kampf gegen das osmanische Reich während des ersten Weltkriegs zusammenführt, ihre Sprache spricht und die Wüste liebt – sozusagen ein feinsinnig-aristokratischer Che Guevara. John Lennon vereint die Attribute einer Jesusfigur mit denen eines Popstars. Beide starben jung, beide sind uns im Wesentlichen durch Film- und Tonmedien bekannt. Auch die Musketiere kennen Sie sicherlich eher durch Verfilmungen als durch unmittelbare Erfahrung. Mir sind sie als wilder Männerbund in Erinnerung geblieben, der in unregelmäßigen Abständen „Einer für alle, alle für einen“ brüllt.(Kleine Fußnote: Ich finde es bemerkenswert, dass Michael Kress sich in seiner Ausstellung von 2007 mit Internetfotografien von nackten Frauen beschäftigt hat, mit objektivierenden Blicken und der Möglichkeit, diese zu unterwandern – siehe auch http://www.diemaedchenvonnebenan.de/. Die Helden unserer Reisegruppe hingegen sind alle Männer, es handelt sich dabei um typische Jungsfilme, in denen es um Kampf, Ehre, Raumaneignung, etc. geht. In gewisser Weise ist diese Ausstellung zu der vorherigen in diesen Räumen komplementär: Es wird daran sehr schön gezeigt, wie sehr der uns umgebende Raum auch einer voller Geschlechternormierungen ist, die wir viel zu oft vergessen.)Neben der Legendenbildung hat unsere Reisetruppe noch etwas anderes gemeinsam: Als fiktive oder reale Figuren haben sie sich, zu verschiedenen Verfilmungen, alle an demselben Drehort aufgehalten, der Playa Algarrobico bei der südandalusischen Stadt Carboneras, einer beliebten Filmlocation der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts. Besondere Berühmtheit erlangte die Drehlandschaft durch den erwähnten Film Lawrence von Arabien, in welchem die Schlacht von Aqaba, einer Hafenstadt Jordaniens, eben dort nachgebaut und nachgestellt wurde. Man könnte sagen, dass diesem Gelände durch den Film eine bestimmte Lesart eingeschrieben wurde. Sehe ich Carboneras, denke ich nun an Aqaba.

 

Doch es gibt weitere Schichten und Ge-schichten. Ein Film mit John Lennon wird dort gedreht (How I won the War), es heißt, er habe dort am Strand „Strawberry Fields“ komponiert. Wahrheit oder Legende? So oder so wird eine weitere Sinnschicht aufgetragen. Wenn ich nun die Melodie des Liedes höre, sehe ich die karstige, hügelige Wüstengegend vor mir. Ich denke an den Text des Stückes, in dem es um die Verunklarung von Traum und Wirklichkeit geht. Um irgendetwas im Niemandsland zwischen Drogenrausch, Wahnsinn, Freiheit, Einsamkeit und Utopie… „Living is easy with eyes closed…“ singt Lennon, und man möchte ihm gerne zustimmen. Aber die Schichtung und Überschreibung von Sinnebenen hört hier nicht auf. Hört sie nie auf?Michael Kress zufolge sprechen wir zu oft davon, etwas in Bilder hinein zu interpretieren. Ihm ginge es aber darum, etwas heraus-zu-interpretieren, heraus-zu-wahrnehmen. Ich komme darauf zurück.Es wurden weitere Filme abgedreht. In Die vier Musketiere wird das Stück Land wieder in eine andere Zeit versetzt und anders kostümiert. Es ist verblüffend, was man alles mit einer verhältnismäßig öden Mondlandschaft anstellen, und auf wie viel unterschiedliche Weisen man daraus Kapital schlagen kann. Später wurde am Strand ein Hotelkomplex gebaut – in Wirklichkeit, nicht im Film – doch durch den Protest von Umweltschützern kam es zu einem Baustopp. Nun steht dort eine Bauruine. Nicht weit davon entfernt wird, ungeachtet der Ökologen, Sand für die Bauindustrie abgebaut. Quer durch das Tal, durch welches einst Lawrence alias Peter’ O Toole stolz und fahnenschwingend mit seinem Kamel galoppierte, verläuft mittlerweile eine Landstraßenbrücke. Darunter treffen sich am Wochenende spanische Strandurlauber. Es wird auch über eine Renaturierung dieses Naturschutzgebietes nachgedacht.Ein merkwürdiger Naturraum. Können wir heute noch von Natur und dem Naturschönen sprechen, so wie Kant, als er sagte: Das Schöne zeigt an, dass der Mensch in die Welt passt? Ich verstehe die Arbeit von Michael Kress, in der dieser besondere Ort exemplarisch ist für andere Orte und Räume, so, dass auch der Naturraum ein Normenraum ist, ziemlich vollgestellt mit Normen. Um mit unserer kleinen Reisegruppe ins Kino zu gelangen, zu imaginären Räumen, die jeder für sich in seinen Film umschreiben kann – um also in dieses cineastische Erdbeerfeld zu gelangen, müssen wir erst einmal durch die Wüste, so wie Lawrence von Arabien. Versuchen, heraus-zu-wahrnehmen, indem einzelne Sinnschichten im Abtragen greifbar werden.

 

Nicht alle sind davon begeistert. Der Kontrahent von Lawrence, ein Beduine, fragt ihn in einer Szene: Was wollt ihr Engländer eigentlich alle in der Wüste? Wir Beduinen träumen nicht von der Wüste, wir träumen von grünen Wiesen und Bäumen. In der Wüste ist nichts zu holen: „There is nothing there“ und: „Nobody needs nothing!“ Aber vielleicht brauchen wir diese gefährliche Leere, um aus dem Normenraum, der zugleich unser Sinnraum ist, einen Blick auf etwas anderes werfen zu können. Der Pragmatist Richard Rorty hat einmal Kreativität als „Flirt mit dem Sinnlosen“ bezeichnet. Um eine neue Perspektive zu gewinnen, muss man vielleicht vorübergehend in die Sinnwüste gehen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob man das alleine tun muss. Michael Kress jedenfalls hat diese Wüste, so viel steht fest, schon einige Male erfolgreich durchwandert und kann am Ende sagen: YO AQABA. Ich Aqaba oder – auf spanisch – so ungefähr: Ich vollende, war gerade da, komme gerade von, höre auf, bringe fertig, zerstöre, führe aus, mache Tabula rasa, beschließe.

Zu dieser Wanderung möchte ich ihn beglückwünschen und ihm auf dem weiteren Weg zurufen: AQABA, Michael Kress!