Freizeitanzug für Soloszenen

Peinture intime

Cornelia Sollfrank in Kultur und Gespenster,
WIRKLICH WAHR II, Heft Nr. 4, Frühjahr 2007

MICHAEL KRESS "Freizeitanzug für Soloszenen", 2007, Video Still, Vector Graphic Animation on Dieter Roth Solozenen. Mit freundlicher Genehmigung der Dieter Roth Foundation Hamburg
MICHAEL KRESS
„Freizeitanzug für Soloszenen“, 2007
PUDELKOLLEKTION & TROTTOIR
02. bis 14. April 2007, Feat. Teleton & Julius Steinhoff Video Still, Vector Graphic Animation on Dieter Roth Solozenen.
Mit freundlicher Genehmigung der Dieter Roth Foundation Hamburg

„Was ich sehe, ist nicht da“.
Oder wie Michael Kress aus Pornobildern einen Freizeitanzug schneidert.

Inzwischen ist sie ein Geheimtipp, die Website „Die Mädchen von nebenan“ von Michael Kress. Jeden Monat wird sie von Tausenden von Surfern besucht, und wenn man einmal angefangen hat, will man sie alle sehen, diese seltsamen Bilder, die sich hinter Namen verbergen wie: Bunny B., Loretta, April & Mercedes, Jenny, Bonnie, Mai usw. Ja, es handelt sich um genau das, was man als erstes assoziiert mit derartigen Frauennamen: um Schlüpfriges und Klebriges, um nach Schweiß und Desinfektionsmittel riechende Billig-Pornos. Noch verstärkt wird der Eindruck durch das dumpfe Rosa als Hintergrundfarbe, auf der in leuchtend-blauen Großbuchstaben die Namen der Mädchen locken: „(Kl)(F)ick mich“.

 Hat man zum ersten Mal gewagt, zu – klicken, ist man fassungslos, ob des Gebotenen. Nicht weil die Winkel der dargestellten Erektionen alles bisher Gesehene übertreffen oder zu bearbeitende Körperöffnungen besonders weit geöffnet wären, nein, einfach weil etwas ganz und gar nicht stimmt mit diesen Bildern. Die im schäbigen Ambiente stereotyp posierenden Frauen sind zwar noch da, aber wer hat hier einfach reingemalt, die Mädchen mit Pinsel und Farbe angezogen, sich selbst eingeschrieben?

 Ein bisschen ungelenk sieht es aus. Die bunten Farbflächen, die die primären Geschlechtsteile immer abdecken, den Torso meistens, manchmal aber auch die gesamten Arme und Beine, sie sind Kleidungsstücken nachempfunden. Aber sie wollen Fläche bleiben, wollen sich nicht in 3D kunstvoll um den Körper schmiegen und mit Farbverläufen Räumlichkeit suggerieren. Sperrig stehen sie herum an der Oberfläche, versuchen die dahinter liegende Fotografie zu verdrängen und zu ersetzen.

 Was stattdessen passiert, ist dass sich die Bilder verdoppeln: Jedes übermalte Bild, auf dem grell-bunte Leggings und Tops ablenken wollen von dem, was sie verbergen, verdoppelt sich im Kopf des Betrachters. Die als störend empfundene Übermalung wird ausgeblendet und zum Vorschein kommt – das Übermalte. Die Fragmente der Fotografie vervollständigen sich im Kopf des Betrachters wieder zu einem ganzen Bild, errechnet aus einem allgegenwärtigen Code, gespeist aus dem Fundus der Erinnerung. Die Blicke wandern hin und her – zwischen dem Innen und dem Außen. Etwas Reales hat den Betrachter aufgeschreckt, ihn gestört in seiner Einheit.

 „Zartes Mädchen (’name‘)”

 Doch damit begnügt sich der Künstler nicht. Kress schreibt sich nicht nur dazwischen, sondern er beginnt nun auch, den Code selbst umzuschreiben. Er löscht die Ebene der Fotografie gänzlich. Gesichter, Hände, Füße und Ambiente verschwinden. Was bleibt, sind bunte Farbflächen, die etwas überdecken, fragmentierte Posen, die ein entspanntes und laszives Sich-zur-Schau-Stellen immer noch erahnen lassen. Doch nun nicht mehr digital, sondern verkörpert und körperlich in Pigment und Lösungsmittel, entwickeln die gemalten Flächen Leben, formieren sich zum Widerstand. Das Bild im Kopf verschwindet. Ein Lustgefühl entsteht, das anders ist.

 „We like Group Shows”

 Letztendlich versammeln und tummeln sie sich auf der Leinwand. Ineinander, vor- und hintereinander, unter- und übereinander stecken, strecken und bewegen sich die bunten Farbflächen. Abstrahiert, sich verlustierend, streicheln und berühren sich die Körperteile – sind aber auch durch präzise Farbgebung voneinander getrennt. Im Zusammenspiel und mit neuer Kraft der Farbe feiern sie ihre Befreiung. Weiß der Betrachter um die Geschichte dieser Zeichen, freut ihn das Wieder-Sehen am anderen Ort. Wenn nicht, kann er sich einfach auch verführen lassen, von groß und bunt, von spielerisch und sexy. Jetzt hat er diese Wahl.

 Aus Spiel wird ernst: „Freizeitanzug für Soloszenen”

 Das neue Genre, in dem sich Kress bewegt und eine nackte Person bekleidet, ist das Künstlertagebuch. Hier verwendet er zwar – oberflächlich betrachtet – wieder das gleiche Verfahren, doch in einer ganz anderen Absicht – und mit ganz anderem Ergebnis.

Ort des Geschehens ist eine Sequenz aus dem videografierten Tagebüchern von Dieter Roth, in der dieser nackt auftaucht. Seit Beginn der 1980er Jahre hatte Roth experimentiert mit bildnerischen und schriftlichen Aufzeichnungen. Zu Beginn zensierte er noch nach ästhetischen Kriterien, Langweiliges und Intimes sollte raus. Doch es erfolgte zunehmend eine Radikalisierung und die aus 128 Videofilmen bestehenden „Solo Szenen“ von 1997/98 zeigen den Künstler bei alltäglichen Verrichtungen, beim Essen, Schlafen, Schreiben, Lesen, bei der Körperpflege u.s.w.

 Nicht wie bei Pornos, ist das, was wir hier sehen echt, es ist ein Beweis, das Ergebnis künstlerischer Selbstüberwachung, gemacht für ein unsichtbares Publikum. Und auch der Künstler sieht: sein Innen hat ein Außen. Es ist ein Bild von ihm, und es zeigt es, alles: die Verzweiflung, die Verletzung; ein alter Mann, gebrochen und allein, und nur bei sich selbst, in seinem ungeliebten, dicken Körper.

 Beim Anblick dieses Elends vergeht dem Kress sein Spaß. Hier kann er nicht befreien und nicht mal stören. Er greift nicht ein – nicht in den Code, sondern unterwirft sich ihm. Er ergreift Partei. Sich mit dem Abgebildeten identifizierend, empfindet er Scham und will ihn schützen. In einem blauen Freizeitanzug, gemalt von Kress, soll Roth es gut haben, Trost finden.

 Und damit nicht genug. Ein Zeichen reicht hier nicht aus; dicke blaue Farbe für einen dicken alten Mann. Er meint es ernst, der Künstler, und lässt ihn nähen, den Anzug. Für Roth ist das egal; er wusste, was er tat. Er wusste auch, es ist nur Kunst – sein „Gelebe“.

Cornelia Sollfrank in Kultur und Gespenster, WIRKLICH WAHR II, Heft Nr. 4, Frühjahr 2007